Der Kanzler steht vor einer dramatischen Entscheidung (2024)

Person der Woche: Olaf Scholz Der Kanzler steht vor einer dramatischen Entscheidung

Von Wolfram Weimer 11.06.2024, 09:48 Uhr Artikel anhören

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Die Europawahl erschüttert Deutschland: Die Ampel wirkt scheintot. Die Grünen sind out. Junge und Arbeiter wählen rechts, der Osten dreht ab - ausgerechnet Friedrich Merz könnte den Kanzler jetzt noch retten.

Die Europawahl war nicht bloß ein Rechtsruck und ein Denkzettel gegen die Ampelregierung. Sie hat eine veränderte Republik demaskiert. Deutschland erlebt eine neue Ordnung seiner politischen Kultur. Wenn Rechtspopulisten trotz krasser Skandale ganz Ostdeutschland klar dominieren und die Kanzlerpartei auch bundesweit überholen, wenn Jungwähler deutschlandweit eher AfD als Grüne wählen, wenn Arbeiter AfD und CDU als ihre liebsten Parteien ankreuzen, wenn eine Regierungskoalition aus drei Parteien mit Mühe 30 Prozent erreicht, wenn eine populistische Neugründung sofort stärker wird als die FDP, wenn die Linkspartei verschwindet, die SPD keine Volkspartei mehr ist und in Süd- wie Ostdeutschland an die Fünfprozentmarke herantaumelt - dann erlebt Deutschland einen Achsbruch der alten Bundesrepublik.

Die Wähler haben mit dieser Europawahl der Ampelregierung zugleich den Totenschein ausgestellt. Seit Monaten zeigen die Umfragen, dass diese Regierung so unbeliebt ist wie keine zuvor. Die Härte des Wahlergebnisses machte ein Weiter so in Berlin eigentlich unmöglich, wenn das demokratische Sensorium der Regierung einigermaßen intakt wäre. Die Deutschen haben der Ampel die Legitimation auf dramatische Weise entzogen. Jede normale Regierung würde Konsequenzen ziehen und der Bevölkerung signalisieren: "Wir haben verstanden." Die Integrität einer Demokratie lebt vom offenen Wechselspiel aus Volkswillen und Regierungshandeln. In Frankreich demonstriert Präsident Emmanuel Macron mit seiner Neuwahl-Entscheidung auf besonders konsequente Weise, was das bedeuten kann.

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Muss es Neuwahlen geben? Von Lucke: Kanzler Scholz "hat das Land fast verloren"

Diesen Mut scheint Scholz nicht zu haben. Tatsächlich plant der Bundeskanzler offenbar das Gegenteil. Trotz des wahlweise als "Debakel", "Denkzettel" oder "Desaster" titulierten Ergebnisses zeigt er sich unbeeindruckt, als sei die bundesweite Wahl ein Bingo-Spiel im Altersheim von Recklinghausen gewesen. Obwohl er sich in ganz Deutschland demonstrativ auf Großplakaten zur Wahl gestellt hat, duckt er sich nun weg. Am Wahlabend war der Kanzler verschwunden, am Tag drauf erklärte er dünnlippig, "dass wir unsere Arbeit machen, das muss jetzt für alle der Maßstab sein, sich anzustrengen und die Aufgaben zu lösen, vor denen wir stehen". Im Klartext: Der Kanzler übernimmt keine Verantwortung, will sich durchwurschteln und die Krise aussitzen.

Drei Risiken, die Scholz möglicherweise unterschätzt

Doch das dürfte schwierig werden. Denn die Erschütterungen in den Regierungsparteien sind so gewaltig, dass die Schockwellen auch seine Macht infrage stellen werden. Olaf Scholz hat drei Risiken, die er möglicherweise unterschätzt.

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Erstens das unmittelbare Problem, dass die anstehenden Haushaltsberatungen schon jetzt eine tiefe Koalitionskrise ausgelöst haben. Der Etat 2025 soll eigentlich im Juli im Kabinett beschlossen werden. Doch davon ist die tief zerstrittene Koalition weit entfernt. Die FDP hat bereits klargemacht, dass sie Grünen und SPD in diesem Streit keinen Millimeter mehr entgegenkommt. Die Verhandlungen werden nun zur Sollbruchstelle dieser Regierung. Die Freidemokraten fühlen sich nach dem Wahlergebnis vom Sonntag ermutigt, hart zu bleiben. Sie sehen im Haushaltsstreit eine Chance für heroischen Widerstand und einen letztmöglichen Ausstieg aus der Ampel.

Das zweite akute Problem von Scholz besteht darin, dass die SPD ihm nicht blind in den Untergang folgen wird. Im Vergleich zur letzten Bundestagswahl (25,7 Prozent) haben die Sozialdemokraten mehr als 40 Prozent ihrer Wählerschaft verloren. In der Bundestagsfraktion sehen viele Abgeordnete ihre Zukunft akut ruiniert, wenn Scholz einfach so weitermacht. In der SPD hat daher aus schierem Überlebensinstinkt die Personaldebatte begonnen. Viele Mandatsträger wünschen sich, dass Scholz zumindest eine weitere Kanzlerkandidatur für 2025 aufgibt und Boris Pistorius den Vortritt lässt. Scholz wird die offene Machtfrage um seine Person in diesem Sommer nicht unterdrücken können - und sie wird seine Position weiter schwächen.

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Drittens stehen im Herbst Landtagswahlen in Ostdeutschland an. Nach derzeitiger Stimmungslage droht die SPD in Sachsen und Thüringen unter die Fünfprozenthürde zu fallen. In Sachsen holte die SPD am Sonntag nur noch 6,9 Prozent - das Bündnis Sahra Wagenknecht demütigte die Sozialdemokratie mit einem Ergebnis von 12,6 Prozent. In Thüringen holte die SPD mickrige 8,2 Prozente, die BSW lag bei 15 Prozent. Die SPD verliert damit in historischen Kernlanden der Sozialdemokratie nicht bloß ihre Rolle als Volkspartei, sie droht sogar ganz aus den Parlamenten zu verschwinden. Das Durchwurschteln des Kanzlers wäre dann zum historischen Untergang geworden. Ein geordneter Bundestagswahlkampf für 2025 wäre auf dieser Basis mit diesem Kanzler kaum mehr planbar.

Fazit: Die Tage von Olaf Scholz als Kanzler sind sicher gezählt, wenn er die Ampel wirklich nur aussitzen will. Er ist der unbeliebteste Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik und wird die Stimmung nur drehen können, wenn er einen Befreiungsschlag wagt. Um sein Ansehen und sein Amt zu retten, könnte er nach dem Vorbild Gerhard Schröders 2003 eine neue Agenda für Deutschland postulieren und sich als Macher für das Finale seiner Legislatur präsentieren. Es bräuchte einen Aktionsplan, um Kernprobleme in der Migrations-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik zu lösen. Da er das mit der Ampel nicht hinbekommen kann, könnte ausgerechnet Friedrich Merz eine letzte Hoffnung für den Kanzler werden. Die CDU hat signalisiert, dass sie für einen überparteilichen Deal einer Krisenaktion zu haben wäre, wenn es zugleich vorgezogene Neuwahlen gäbe. Scholz und Merz haben sich vergangene Woche überraschend zu vertraulichen Gesprächen getroffen. Beide wissen, dass Nichtstun die rechtspopulistische Welle nur anwachsen ließe. Beide wissen auch, dass ein Aktionsplan im Sommer die Herbstwahlen positiv beeinflussen könnten. Scholz würde schlagartig das Heft des Handelns zurückerlangen und seine minimalen Chancen auf eine Wiederwahl deutlich erhöhen. Doch hat er den Mut dazu? Die Äußerungen seit der Wahl klingen noch nicht danach. Doch das kann sich rasch ändern, wenn ihm seine Genossen die Wahrheit sagen.

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